Am Spitz (Teil 1)

August

Stories Übersicht

Wolfis Alpinseite

 zu Teil 2

Info

Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne spitzeln zwischen den Staffeln der aufziehenden Schäfchenwolken hindurch, beleuchten die helle Rätkalkplatte der Freispitz-Südwand und verhelfen ihr zu einem dramatischen Kontrast vor dem bleigrauen Himmel dahinter und dem dunklen Aptychenzacken links neben der Wand. Obwohl der lange Weg hierher unter dem Gewicht der gutgefüllten Rucksäcke schon etwas Müdigkeit in unsere Beine gepflanzt hat, beschleunigen sich unsere Schritte nochmals, als wir hineinkommen in den oberen Bereich des Parseiergrießes.

 Es ist aber nicht nur die Vorfreude auf den schönen Freispitzkalk, die unser Tempo nochmals hochzieht, auch aus anderem Grunde kommt Spannung auf. Dort vorn, bei den großen Felsblöcken, haben wir im letzten Herbst unser Kletterseil deponiert. Obwohl es dort schon einen Winter tadellos überstanden hat, beschleicht mich beim Gedanken an das Seil ein komisches Gefühl und die resultierende Anspannung hat mein Gehtempo mehr beschleunigt, als es Lunge und Waden lieb sein kann, vor allem im Hinblick auf unser heutiges Vorhaben.

Wir sind heute hier heraufgekommen, um unserer schon vor vielen Jahren gekletterten Route »Blinde Welt« einen eigenständigen Ausstieg durch die herausfordernde Schlusswand zu verpassen. Damals, nach der Erstbegehung des unteren und mittleren Wandteils im »Vor-Bohrmaschinen-Zeitalter« hatten wir es angesichts des sicherungsfeindlichen kompakten Gesteins der Schlußwand mit der Einmündung der neuen Route in die Nachbarführe »Kronjuwel« gut sein lassen.

BW2.SLkl

In der 2. SL, gemeinsam mit der Schreck _Heel

BW1SLneumed

Vor zwei Jahren dann rafften wir uns zu einer Sanierungsaktion im »Kronjuwel« auf. Dabei entstand – neben einer neuen, begeisternden Einstiegsseillänge – auch eine „Abkürzung“ zum vorher stark mäandernden Routenverlauf in der „Headwall“. Damit war dann aber zusätzlicher Platz freigeworden für einen eigenständigen Ausstieg für die »Blinde Welt« und wir hatten beim Sanieren immer schon fasziniert rübergespechtet in diesen fantastischen Streifen jungfräulichen Fels. Das kompakte, aber doch fein strukturierte Gestein verhiess beste Kletterei, aber auch ein paar fragliche Zonen und spärliche natürliche Sicherungsmöglichkeiten, deswegen auf jeden Fall großen Erstbegehungsaufwand. Dementsprechend gut gefüllt mit Bohrmaschine und Schlosserei sind unsere Rucksäcke heute und wir sind froh, wenigstens das Einfachseil zum Klettern schon hier heroben zu wissen, haben nur noch ein Halbseil zum Abseilen und Nachziehen der Bohrmaschine dabei.

Wenig später sitzen wir auf einer kleinen Gras- und Blumeninsel inmitten eines Meeres aus braunem Mergelgeröll. Wir haben allerdings für die Reize unserer Umgebung momentan kein Auge, sind entsetzt und ratlos. Direkt vor uns, einige Meter vom grossen Block entfernt, liegt unser Seil – oder vielmehr das, was von ihm übrig ist. Überall ist der Mantel zerfetzt und zerfleddert und an vielen Stellen sind die Litzen des Seilkernes an- oder durchgenagt. „Das müssen die Murmeltiere gewesen sein“ kommentiert Dieter die Tatsache, dass das Seil auch einige Meter von seinem Depot entfernt liegt. Erst jetzt fällt mir auf, wie häufig die Pfiffe der kleinen Bergbewohner unser Ankommen im Kar quittierten. Den putzigen Nagern waren in den selbsterfundenen Gute-Nacht-Geschichten für die Kinder immer die Rolle der »Guten« vorbehalten und ich kann mir auch gut vorstellen, dass so ein Büschel Seilmantelflaum einem Murmelbau erst das letzte Stück Behaglichkeit verleiht. Trotzdem hält sich momentan meine Sympathie für die Murmel in ganz engen Grenzen.

So hocken wir reichlich niedergeschlagen und frustriert vor den Überresten unseres Seiles und es dauert eine ganze Zeit, bis wir endlich unsere Gedenken der Frage zuwenden können, was mit dem Rest des Tages noch anzufangen ist. Eine genaue Untersuchung der Seilfragmente ergibt, dass bei großzügiger Betrachtung noch knapp 30 m Seil einigermassen brauchbar geblieben sind. Da eine Sanierung des unteren Wandteils sowieso angestanden wäre, beschliessen wir, soweit die Route hinaufzuklettern als es die 30 m Abseilreichweite eben zulassen und in diesen Bereichen die Absicherung zu erneuern.

Einige Stunden und mehrere interessante Seilmanöver später kehren wir stückchenweise zurück von unserem Ausflug in die Wand hinauf. Dieter läßt mich an unserem intakten Halbseil hinunter in die direkte Einstiegsseillänge, die wir im Aufstieg noch umgangen hatten. In diesen 50 kompakten Plattenmetern wundere ich mich doch ziemlich, welche spärliche Absicherung wir damals – bei der Erstbegehung – als ausreichend angesehen hatten. Anhaltend im Bereich des 6. Grades, dazu mit einer richtigen 7er Stelle gewürzt, hatten uns zwei gute Keilstellen und zwei einigermassen brauchbare Normalhaken zur Durchsteigung genügt – auch wir waren offensichtlich stark geprägt von der damaligen Kletterethik, die bestimmt war von Nervengurus wie Heinz Mariacher, Jürgen Brandauer oder Prem Darshano. Diesen Vorbildern bedeutete jeder Bohrhaken einen Frevel oder zumindest das Eingeständnis von persönlicher Feigheit. So versuchten auch wir, die aufkeimende Angst so lange wie möglich zu ignorieren, das Bewusstsein: „Wenn Du jetzt Scheiss baust, geht’s übel aus“ und den daraus resultierenden heissen Schauer im Rücken beim Zug zum rettenden Griff als normale und unbedingt notwendige Komponente des Erlebnisses »alpines Sportkletten« anzusehen. Die hauptsächliche Freude dieser Art des Kletterns bezog man aus der Tatsache, den inneren Schweinehund besiegt und die ganze Sache überlebt zu haben. Zwar soll es auch heute noch Zeitgenossen geben, die diese heroischen Zutaten für haftende Erinnerungen unbedingt benötigen, uns war aber damals schon der Abenteuerfaktor in dieser Seillänge etwas zu hoch erschienen und wir hatten nachträglich noch 2 Bohrhaken angebracht. Mit den fünf neuen, zusätzlichen Bohrhaken aus der sanieraktion ist diese Seillänge nun für die Abenteuerkletterer vollends uninteressant, wir selber aber – und wohl die Mehrheit der Klettergemeinde - werden erst jetzt richtiges Vergnügen an dieser Traumkletterei haben.

Ausschnitt aus der 1. SL

weiter